Die Abel-Collection

1934 – Stimmen. Oder: Als mein Mann das große Glück hatte, dem Führer im Tempelhofener Flughafenrestaurant eine Erfrischung reichen zu dürfen

Futur3, Regie: André Erlen, NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Der folgende Essay ist eine leicht überarbeitete Fassung meines Textes aus dem Programmheft der Produktion. Gemeinsam mit Charlotte Luise Fechner habe ich mich durch die Abel-Papers gelesen und eine Auswahl für die Inszenierung von Futur3 getroffen.

„Am anderen Tage hatte dann mein Mann das große Glück, dem Führer beim Abflug im Tempelhofener Flughafenrestaurant eine Erfrischung reichen zu dürfen.“

Anfang Juli 1932 war es, als der Oberkellner Hermann Huhn dem Vorsitzenden der national­sozialistischen Arbeiterpartei, Adolf Hitler, nach einer Kundgebung in Berlin ein Getränk servierte. Seine Frau, ihres Zeichens Kindermädchen, trug fortan stolz „immer und überall“ ihr Parteiabzeichen. Angeworben hatte sie einige Jahre zuvor ein Briefträger – dies schreibt jedenfalls eine Person, die als „Pgn. H. Huhn“ aus Berlin-Neutempelhof zeichnet, in einem Beitrag, der 1934 für ein Preisausschreiben eingeschickt wurde.  

Iniitiert hatte den Schreibwettbewerb der polnisch-amerikanische Soziologe Theodore Abel (1896-1988). Abel wollte etwas über die Gründe erfahren, die Hitler an die Macht gebracht hatten und lobte  – unter der Schirmherrschaft der Columbia University New York und in Absprache mit dem NS-Regime – im Sommer 1934 ein Preisausschreiben aus, in dem Mitglieder der NSDAP über ihren persönlichen Weg in den Nationalsozialismus berichten sollten. In der Ausschreibung heißt es:

Die Kandidaten sollen genaue und detaillierte Beschreibungen ihres persönlichen Lebens geben, speziell nach dem Weltkrieg. Besondere Aufmerksamkeit sollte den Darstellungen des Familienlebens, der Erziehung, der wirtschaftlichen Bedingungen, der Mitgliedschaft in Vereinigungen, der Teilnahme an der Hitler-Bewegung und der wichtigen Erfahrungen, Gedanken und Gefühle über Ereignisse und Ideen der Nachkriegszeit gewidmet werden. Die Preise werden an Autoren verliehen, die die detailliertesten und vertrauenswürdigsten Darstellungen eingereicht haben. Stil, Rechtschreibung oder dramatischer Geschichtenwert werden nicht berücksichtigt. Vollständigkeit und Offenheit sind die einzigen Kriterien, so dass auch die einfachste und undramatischste Geschichte die volle Betrachtung erhalten wird.

Abel erreichten rund 700 Zuschriften, die er versuchte, im Sinne seiner Fragestellung zu ordnen. Von Frauen geschriebene Texte ließ er dabei allerdings außen vor, die Zahl von 48 Einsendungen schien ihm zu gering für eine verallgemeinerbare Aussage. Seine Ergebnisse und Schlussfolgerungen präsentierte Abel 1938 in dem Buch „Why Hitler came into Power“. Noch zu Lebzeiten übergab er das Material und seine Notizen dem Archiv der Hoover Institution of War, Peace and Revolution in Stanford/USA, um die weitere Erforschung des National­sozialismus zu ermöglichen. Die autobiographischen Aufsätze sind wissenschaftlich in verschiedenen Publikationen ausgewertet (s. auch die Literaturangaben am Ende des Textes) und als digitale Faksimiles in einer Online-Collection der Stanford University zugänglich.

Von den autobiographischen Essays der Abel-Collection, die von Frauen verfasst wurden, sind 36 erhalten. Die Historikerin Katja Kosubek hat sie überprüft, kontextualisiert und editiert. Sie zweifelt an der Authentizität der oben erwähnten Absenderin „H. Huhn“; doch dass ein Oberkellner gleichen Namens zu der Zeit und unter der im Essay angegebenen Adresse (Hohenzollernkorso 10) in Berlin lebte, kann sie anhand des Berliner Adressbuches aus dem Jahr 1934 nachweisen. Ob nun der Gatte unter dem Namen der Frau oder doch die Gattin selbst – jemand hat als H. Huhn einen sechseitigen maschinen­geschriebenen Aufsatz verfasst, der Auskunft auf die Frage geben sollte:

„Warum ich Nationalsozialist wurde“. Tja, warum?

Abels Sammlung spiegelt Lebenswege und Weltanschauungen derjenigen, die sich schon vor Hitlers Kanzlerschaft für die und in der NSDAP engagierten. Die – von Abel so bezeichneten – Biogramme sind so verschieden wie ihre Schreiberinnen und Schreiber, die Einreichungen variieren in der Länge zwischen einer handschriftlichen Notiz und 80 Schreibmaschinenseiten. Gleichwohl lassen sich Gemeinsamkeiten erkennen, zeithistorische Determinanten, typische Alltagserfahrungen und geteilte Überzeugungen.  „1934 – Stimmen“ macht diese überindividuellen Mentalitäten hör- und erfahrbar. Grundlage der Spielfassung sind (mit wenigen Ausnahmen bei den Texten von Frauen) die 85 Biogramme, die der Berliner Autor, Verleger und Ausstellungsmacher Wieland Giebel 2018 als Buch veröffentlicht hat.

Es handelt sich dabei um teils glühende Bekenntnisse zum Nationalsozialismus, die diesen als Alternative von einer negativ verstandenen Moderne absetzen. Die Autoren und wenigen Autorinnen schildern ihre politische Sozialisation, indem sie vom Erleben des Ersten Weltkrieges und vor allem dem Alltag in der Weimarer Republik berichten. Es finden sich wiederkehrende Motive: Gefühle der Ausgrenzung, Verzweiflung über die wirtschaftliche Situation, mangelndes Vertrauen in die Demokratie und das deutliche Bedürfnis nach einem ‚starken Mann’ an der Spitze des Staates. Die Verfasser und Verfasserinnen glauben daran, dass Hitler dieser außerordentliche Führer sei, so dass eine quasi religiöse Hitler-Verehrung aus den Biogrammen hervorscheint. Auf der anderen Seite der politischen Gefühlsäußerungen stehen rassistische, antisemitische und antikommunistische Feindbilder und das lustvolle Ausleben körperlicher Gewalt.

Warum sich nun rund 85 Jahre später mit diesen Texten beschäftigen, sie gar für das Theater einrichten? Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, sind die Parallelen zur Gegenwart im Hinblick auf die Motive der persönlichen Radikalisierung frappierend. Aber wie mit dem Material umgehen? Wie von und aus der Gegenwart erzählen und dabei der Vergangenheit gerecht werden? Diejenigen, die an dem Preisausschreiben teilnehmen, wissen noch nichts von Weltkrieg und Shoah, ahnen den Zivilisationsbruch allenfalls als aufmerksame Lesende von Hitlers Mein Kampf. Sind sie deshalb frei von Schuld? Vor die Aufgabe gestellt, Lebensgeschichten bekennender Nazis performativ aufzubereiten, ergibt sich zwangsläufig die Frage nach dem Umgang mit artikulierten Werten, mit Sprache und ja, mit dem Deutschsein an sich.

Anders gefragt: Wie kuratiert man dokumentarische Texte, die Zeugnisse des deutschen Faschismus sind? Ohne einen analytischen Blick und eine gewisse Kaltherzigkeit geht dies nicht. Man muss die Augen verschließen vor den vielen Schilderungen bitterer Armut, Arbeitslosigkeit und Elend, muss die Gutgläubigkeit überlesen und darf den Menschen nicht allzu sehr vertrauen. Es ist letztlich nicht zu überprüfen, ob sie – wegen des in Aussicht gestellten Preisgeldes – sozial erwünschte Antworten geben oder ob es ihnen ernst ist und ihre Lebensgeschichten wahr sind. Dennoch ist die Abel-Collection eine faszinierende und ergiebige mentalitätsgeschichtliche Quelle für die politische Kultur am äußersten rechten Rand des Parteienspektrums der Weimarer Republik. „1934 – Stimmen“ ist jedoch kein historisches Seminar, sondern Theater und damit der Kunst verpflichtet und nicht der Geschichtswissenschaft.

Ausgewählt wurden Biogramme von Männern und Frauen, die in irgendeiner Weise interessant erschienen – sei es sprachlich, sei es eine geschilderte Anekdote, sei es, dass die schreibende Person einem überindividuellen Typus entspricht. Dabei haben wir uns von Abel gelöst und Theaterfiguren geschaffen, die auf den ersten Blick nicht nationalsozialistisch erscheinen: Amazonen, Jünger, Kriegskinder, Orthodoxe. Auf den zweiten Blick kommen in den verwendeten Lebensgeschichten jedoch typische Motive nationalsozialistischen Denkens und Handelns zur Sprache: dazu gehören u.a. der Führer-Mythos, der Kult um den (gesunden) Körper, Kameradschaft unter Männern, die Unterordnung des Einzelnen unter die Volksgemeinschaft, Antisemitismus, Gewaltverherrlichung, Demokratie-Unwilligkeit.

Langweilige Texte nach dem „und dann und dann und dann“-Prinzip haben wir direkt zur Seite gelegt. Regionale Ausgewogenheit und sozio-demographische Repräsentativität (Alter, Beruf, soziale Schicht) spielten keine Rolle. Letzteres mit einer gewichtigen Ausnahme: die Stimmen der Frauen. Biogramme von Frauen wurden anteilsmäßig häufiger berücksichtigt als solche, die mit männlichen Verfasser­angaben gekennzeichnet waren. Knapp 52 Prozent der Bevölkerung des Deutschen Reiches waren laut Volkszählung aus dem Jahr 1933 weiblich. Die Annahme, dass Frauen ihren Anteil zum Aufstieg des Nationalsozialismus beigetragen haben, ist daher plausibel, auch wenn die NSDAP eine dominant männliche Partei gewesen ist, 1933 waren nur 7,4 % der Mitglieder weiblich.

Esoterische Schwelgereien, die den Nationalsozialismus als Ersatzreligion glorifizieren, sind wegen Schwülstigkeit dem Rotstift zum Oper gefallen. Weitgehend gestrichen sind auch Aussagen, die allzu sehr das Deutsche preisen, den Nationalsozialismus verherrlichen oder Menschen rassistisch verunglimpfen. Wir haben uns entschieden, den (politischen) Alltag und die Selbstbeschreibungen der Autorinnen und Autoren zu reproduzieren, die Wiederholung von Vaterlandslyrik, Hitler-Verehrung und NS-Parolen jedoch auf ein Minimum zu beschränken. Dies betrifft auch das Bild der Judengegner. Die antisemitischen Äußerungen sind in den Originalen noch deutlich aggressiver, beleidigender und menschenverachtender. Durch beständige Reproduktion aber werden (antisemitische) Stereotype tendenziell stabilisiert – selbst dann, wenn man sie in kritischer Absicht zitiert. Es ist ein Dilemma. Gänzlich weglassen kann man den Antisemismus als Kernbestandteil nationalsozialistischer Ideologie nämlich nicht, wenn man antritt, Überzeugungen von NSDAP-Mitgliedern zu analysieren. Denn darum geht es in „1934 – Stimmen. Oder: Als mein Mann das große Glück hatte, dem Führer im Tempelhofener Flughafenrestaurant eine Erfrischung reichen zu dürfen“: den deutschen Faschismus – sei er von gestern oder von heute – mit theatralen Mitteln zu dekonstruieren.

Literaturhinweise

Abel-Collection im Hoover Archiv an der Stanford-University

Theodore Abel: Why Hitler came into Power. An answer based on the original life stories of 600 of his followers. Prentice-Hall, New York 1938.

Wieland Giebel (Hrsg.): “Warum ich Nazi wurde”. Biogramme früher Nationalsozialisten. Die einzigartige Sammlung des Theodore Abel. Berlin: Berlin Story Verlag 2018.

Sven Felix Kellerhoff: Die NSDAP. Eine Partei und ihre Mitglieder. Stuttgart: Klett-Cotta 2017.

Katja Kosubek: “genauso konsequent sozialistisch wie national.” Alte Kämpferinnen der NSDAP vor 1933. Eine Quellenedition 36 autobiographischer Essays. Göttingen: Wallstein Verlag 2017.